Zur Saison 2023 wartete die MotoGP mit der größten Format-Revolution ihrer 75-jährigen WM-Geschichte auf: Die Sprints am Samstagnachmittag wurden eingeführt. Dieses neue Rennformat bescherte nicht nur zusätzliche Aktion auf der Strecke, sondern auch WM-Punkte. In den Sprints, die über die halbe Distanz der Hauptrennen gehen, werden in etwa auch die Hälfte der Zähler des Grand Prix am Sonntag vergeben. Die besten neun Fahrer werden belohnt, der Schlüssel lautet: 12 - 9 - 7 - 6 - 5 - 4 - 3 - 2 - 1.

Seit dem Saisonfinale in Valencia Ende November liegt nun ein vollständiges MotoGP-Jahr mit Sprints hinter uns. Wir haben uns daher gefragt: Welchen Einfluss hatten die Sprints auf die Weltmeisterschaft? Gäbe es ohne Sprints einen anderen Champion? Wer sind die großen Gewinner und wer stünde ohne Sprints deutlich besser dar? Unsere Analyse zeigt beachtliche Unterschiede.

MotoGP-Saison 2023: Aufteilung der Punkte aus Rennen und Sprints

Pos. Fahrer Gesamtpunkte Rennen Sprint Anteil Rennen Anteil Sprint
1 Francesco Bagnaia 467 327 140 70% 30%
2 Jorge Martin 428 260 168 61% 39%
3 Marco Bezzecchi 329 242 87 74% 26%
4 Brad Binder 293 184 109 63% 37%
5 Johann Zarco 225 188 37 84% 16%
6 Aleix Espargaro 206 158 48 77% 23%
7 Maverick Vinales 204 150 54 74% 26%
8 Luca Marini 201 147 54 73% 27%
9 Alex Marquez 177 127 50 72% 28%
10 Fabio Quartararo 172 153 19 89% 11%
11 Jack Miller 163 116 47 71% 29%
12 Fabio Di Giannantonio 151 132 19 87% 13%
13 Franco Morbidelli 102 95 7 93% 7%
14 Marc Marquez 96 58 38 60% 40%
15 Bastianini 84 71 13 85% 15%
16 Miguel Oliveira 76 62 14 82% 18%
17 Augusto Fernandez 71 68 3 96% 4%
18 Nakagami 56 56 0 100% 0%
19 Alex Rins 54 45 9 83% 17%
20 Raul Fernandez 51 50 1 98% 2%
21 Dani Pedrosa 32 22 10 69% 31%
22 Joan Mir 26 26 0 100% 0%
23 Pol Espargaro 15 11 4 73% 27%
24 Lorenzo Savadori 12 12 0 100% 0%
25 Jonas Folger 9 9 0 100% 0%
26 Stefan Bradl 8 8 0 100% 0%
27 Michele Pirro 5 5 0 100% 0%
28 Danilo Petrucci 5 5 0 100% 0%
29 Cal Crutchlow 3 3 0 100% 0%

Da es im WM-Stand nicht ersichtlich ist, wie viele Punkte eines Fahrers vom Samstag und vom Sonntag stammen, haben wir diese zunächst einmal getrennt. Die Zusammensetzung der Gesamtpunkte eines jeden einzelnen Piloten seht ihr in der obigen Tabelle. Dabei wird gleich einmal ersichtlich, dass 2023 alle Stammfahrer trotz diverser verletzungsbedingter Ausfälle gepunktet haben. Im Grand Prix schafften es nur die Ersatzfahrer Iker Lecuona und Takumi Takahashi sowie Ducati-Wildcard Alvaro Bautista nicht in die Punkteränge.

Im Sprint wiederrum haben nur 20 der 22 Stammfahrer auch WM-Zähler angeschrieben. Die Honda-Piloten Takaaki Nagakami und Joan Mir sind in der abgelaufenen Saison an dieser Herausforderung gescheitert, sie können frühestens 2024 ihre ersten Sprint-Punkte sammeln. Von den zehn Ersatz- und Wildcardpiloten, die 2023 zum Einsatz kamen, konnte einzig KTM-Star Dani Pedrosa bei seinen Gastauftritten in Jerez und Misano im Sprint WM-Zähler sammeln. Alle anderen fuhren ihre Punkte ausschließlich im Hauptrennen ein. Überraschend kommt das jedoch nicht, ist es doch deutlich schwerer, in einem Kurzrennen die Top Neun zu erreichen, als in einem Grand Prix über die doppelte Distanz unter die besten 15 zu fahren.

Generell lässt sich festhalten: Je weiter der Blick in der WM-Tabelle nach unten geht, desto dominanter wird der Anteil der im Hauptrennen gesammelten Punkte. Auch das entspricht der Logik von weniger verfügbaren Punktepositionen im Sprint. Auf den vorderen Platzierungen hingegen sollte sich der Anteil der Sprintpunkte rein mathematisch bei etwa einem Drittel einpendeln [Verhältnis der GP-/Sprintpunkte enspricht 2:1, Anm.]. Tatsächlich entsprechen bei den Spitzenpiloten aber nur Francesco Bagnaia (70%) und Brad Binder (63%) in etwa dieser Erwartung. Beim Großteil der Top Zwölf der WM liegt der Anteil der GP-Punkte eher bei drei Vierteln. Im hinteren Feld bewegt er sich zwischen 80 und 100 Prozent. Es gibt jedoch einige wenige Ausnahmen.

Die Sprint-Tabelle

Pos. Fahrer Punkte
1 Jorge Martin 168
2 Francesco Bagnaia 140
3 Brad Binder 109
4 Marco Bezzecchi 87
5 Luca Marini 54
6 Maverick Vinales 54
7 Alex Marquez 50
8 Aleix Espargaro 48
9 Jack Miller 47
10 Marc Marquez 38
11 Johann Zarco 37
12 Fabio Di Giannantonio 19
13 Fabio Quartararo 19
14 Miguel Oliveira 14
15 Enea Bastianini 13
16 Dani Pedrosa 10
17 Alex Rins 9
18 Franco Morbidelli 7
19 Pol Espargaro 4
20 Augusto Fernandez 3
21 Raul Fernandez 1
22 Takaaki Nakagami 0
23 Joan Mir 0
24 Michele Pirro 0
25 Stefan Bradl 0
26 Iker Lecuona 0
27 Lorenzo Savadori 0
28 Danilo Petrucci 0
29 Cal Crutchlow 0
30 Jonas Folger 0
31 Alvaro Bautista 0
32 Takumi Takahashi 0

Die Sprint-Tabelle zeigt sofort, welcher Pilot eine dieser Ausnahmen darstellt: Jorge Martin. Der MotoGP-Vizeweltmeister hat dem neuen Rennformat überdeutlich seinen Stempel aufgedrückt und mehr als zwei Sprintsiege an Punkte-Vorsprung auf die Konkurrenz angehäuft. Der eigentliche Weltmeister Francesco Bagnaia musste sich hier seinem Rivalen deutlich geschlagen geben, zählt mit 140 Punkten aber dennoch zu einem Kreis von vier Piloten, die die Sprints im Jahr 2023 klar prägten. Neben den beiden WM-Rivalen zählen dazu auch Brad Binder und Marco Bezzecchi. Diese vier Piloten vereinen 16 der 19 Sprintsiege untereinander. Speziell Martin und Binder waren im Sprint besonders stark, was ihr jeweiliger Sprintpunkte-Anteil von hohen 39 Prozent bzw. 37 Prozent unterstreicht.

Einen noch höheren Wert kann einzig MotoGP-Superstar Marc Marquez vorweisen. Der scheidende Honda-Pilot sammelte in der abgelaufenen Saison 38 von 96 Punkten im Sprint und verfügt damit über einen sagenhaften Anteil von 40 Prozent. Erklären lässt sich dies mit der Tatsache, dass die Honda RC213V im abgelaufenen Jahr das wohl am schwersten zu fahrende Bike der MotoGP war. Über die kurzen Distanzen im Sprint kann ein Toppilot wie Marquez die Schwächen umfahren, auf lange Distanzen steigt die Sturzwahrscheinlichkeit dann aber.

Mit besonders niedrigen Werten fallen vor allem drei Piloten auf: Johann Zarco, Fabio Quartararo und Fabio Di Giannantonio. Sie stehen in der Sprint-Tabelle verhältnismäßig schlecht dar, dazu aber später mehr. Weitere bemerkenswerte Anekdoten: Maverick Vinales konnte den teaminternen Zweikampf mit Aleix Espargaro in der Sprint-Wertung für sich entscheiden, Alex Marquez und Jack Miller stehen in der Sprint-Tabelle besser dar als in der Gesamtwertung und Augusto Fernandez musste sich überraschend Pol Espargaro geschlagen geben.

Bevor wir nun auf die WM-Tabelle ohne Sprints blicken, wollen wir zunächst noch einen Vergleich zu unserer ersten Sprint-Analyse Mitte Mai nach dem Frankreich Grand Prix ziehen. Damals war ein erstes Viertel der MotoGP-Saison 2023 absolviert. Auffällig: Bagnaia war seinerzeit noch Tabellenführer, Martin lag hinter Binder nur auf Platz drei. Der Pramac-Pilot hatte in Le Mans gerade seinen ersten Sprintsieg gefeiert und kam erst im letzten Saisondrittel so richtig in Fahrt. Er gewann 2023 sieben der letzten acht Sprints. Bagnaia hingegen verlor nach dem Barcelona-Crash seine Form im Kurzrennen und siegte seit unserer letzten Analyse nur noch in Mugello und Spielberg.

Auch Binder konnte seine starke Frühform nicht über das ganze Jahr halten. Lag er nach dem Frankreich-GP noch sechs Punkte hinter Bagnaia, trennten ihn am Saisonende 31 Zähler vom Weltmeister. Auf Sprint-Leader Martin fehlten letztlich sogar 59 Punkte. Bezzecchi konnte sich hingegen steigern. Er sammelte seit dem Frankreich-Gastspiel 70 Zähler im Sprint, zuvor waren es nur 17 gewesen. Ansonsten änderte sich nicht viel: Marc Marquez und Miguel Oliveira rutschten im Ranking etwas ab, Fabio Quartararo steigerte sich dafür. Er hatte nach den ersten fünf Sprints lediglich einen WM-Punkt gesammelt, seither folgten immerhin noch 18 weitere. Die damals noch punktlosen Enea Bastianini, Pol Espargaro, Di Giannantonio, Augusto und Raul Fernandez konnten zumindest einige Male in die Top Neun fahren.

So sähe der MotoGP-WM-Stand ohne Sprints aus

Pos. Fahrer Punkte
1 Francesco Bagnaia 327
2 Jorge Martin 260
3 Marco Bezzecchi 242
4 Johann Zarco 188
5 Brad Binder 184
6 Aleix Espargaro 158
7 Fabio Quartararo 153
8 Maverick Vinales 150
9 Luca Marini 147
10 Fabio Di Giannantonio 132
11 Alex Marquez 127
12 Jack Miller 116
13 Franco Morbidelli 95
14 Enea Bastianini 71
15 Augusto Fernandez 68
16 Miguel Oliveira 62
17 Marc Marquez 58
18 Takaaki Nakagami 56
19 Raul Fernandez 50
20 Alex Rins 45
21 Joan Mir 26
22 Dani Pedrosa 22
23 Lorenzo Savadori 12
24 Pol Espargaro 11
25 Jonas Folger 9
26 Stefan Bradl 8
27 Michele Pirro 5
28 Danilo Petrucci 5
29 Cal Crutchlow 3
30 Iker Lecuona 0
31 Alvaro Bautista 0
32 Takumi Takahashi 0

Nun aber zum Blick auf die MotoGP-WM ohne Sprints. Und hier fällt direkt auf: Auch ohne das neue Rennformat hätte der MotoGP-Weltmeister 2023 auf den Namen 'Francesco Bagnaia' gehört. Der Ducati-Pilot hätte sich auch in der 'normalen' GP-Wertung mit 327 Zählern vor Jorge Martin durchgesetzt und damit seinen Punktebestwert aus dem Vorjahr (265) deutlich übertroffen. Die Sprints haben also zumindest an der Spitze nicht für eine negative Verfälschung des Kräfteverhältnisses gesorgt. Im Gegenteil: Einzig den Sprints ist es zu verdanken, dass die Königsklasse auch 2023 wieder einen spannenden WM-Kampf zu sehen bekam. Ohne das neue Rennformat wäre die Entscheidung zu Gunsten Bagnaias bereits in Katar gefallen, der in den Sprints starke Martin wäre nie in echte Schlagdistanz gekommen.

Während der MotoGP-Weltmeister durch die Einführung der Sprints also etwas länger zittern musste, sind vor allem die bereits angesprochenen Johann Zarco, Fabio Quartararo und in Teilen auch Fabio Di Giannantonio als große Verlierer des neuen Formats zu sehen. Sie sammelten als einzige Top-12-Piloten den Großteil ihrer Punkte im Hauptrennen [JZ 84%, FQ 89%, FDG 87%, Anm.]. Hätte es 2023 keine Sprints gegeben, hätte das Trio folglich auch in der WM-Wertung deutlich besser abgeschnitten. Zarco wäre etwa WM-Vierter geworden und hätte Binder knapp geschlagen, während er in der Gesamttabelle noch ganze 68 Punkte hinter dem KTM-Piloten landete. Quartararo verbessert sich in der reinen GP-Tabelle sogar um drei Plätze und ist plötzlich Siebter, nur sieben Zähler hinter Aleix Espargaro. Vornamensvetter Di Giannantonio hätte sich dank seinem starken Saisonendspurt ebenfalls noch einen Platz in den Top Ten gesichert und wäre sogar knapp vor Gresini-Teamkollege Alex Marquez gelandet.

Weitere, wenn auch etwas 'kleinere' Verlierer der Sprint-Einführung: Franco Morbidelli, Augusto Fernandez, Takaaki Nakagami und Raul Fernandez. Sie alle stünden ohne das neue Rennformat besser da. MotoGP-Rookie Augusto Fernandez sammelte etwa nur 48 Punkte weniger als Markenkollege Miller und ließ in der 'klassischen' WM-Tabelle einige große Namen hinter sich. Nakagami, ansonsten eher mit einer farblosen Saison, liegt plötzlich nur noch zwei Zähler hinter Marc Marquez, dem besten Honda-Piloten und auch Raul Fernandez fehlt nicht viel auf Teamkollege Oliveira.

Abschließend dann auch hier noch der Vergleich zum ersten Saisonviertel. Auffällig: Der damalige WM-Führende Bezzecchi konnte sich nicht an der Spitze halten, liegt aber weiterhin näher an Bagnaia und Martin als in der Gesamtwertung. Die beiden Franzosen Zarco und Quartararo konnten ihre guten Positionen halten, Aleix Espargaro, Di Giannantonio und Oliveira steigerten sich. Alex Rins wurde zum großen Verlierer: Er sammelte aufgrund seines Beinbruches in Mugello nur noch sieben weitere WM-Punkte und rutschte von Platz acht auf P20 ab.

Fabio Quartararo wusste vor allem im Hauptrennen zu glänzen Foto: LAT Images

Fazit: MotoGP-WM mit Sprints spannender, Franzosen verlieren

Wie fällt nun also das Fazit nach einem Jahr MotoGP-Sprints aus? Zunächst muss einmal festgehalten werden, dass der Kampf um die Weltmeisterschaft durch das neue Format spannender wurde. Ohne Sprints hätte Titelverteidiger Bagnaia leichteres Spiel gehabt. Speziell Vizeweltmeister Martin profitierte enorm von den Sprints, aber auch Binder, Miller und die beiden Marquez-Brüder können als Gewinner des neuen Rennformats gewesen werden. Auf Verliererseite stehen ganz klar die beiden Franzosen Quartararo und Zarco sowie Spätzünder Di Giannantonio.

Generell muss aber festgehalten werden, dass die komplette untere Hälfte des MotoGP-Grids unter den Sprints leidet. Von insgesamt 171 möglichen Top-Neun-Platzierungen gingen 144 Stück an die Top-12 der Gesamt-Wertung. Die restlichen zehn Stammfahrer kommen zusammen nur auf 25 Punkteankünfte im Sprint (14,62%), zwei weitere gehen auf das Konto von Dani Pedrosa. Das zeigt sich in der Gesamtwertung: Zwischen den Top 12 und den restlichen Stammfahrern der Königsklasse hat sich eine große Lücke gebildet. Di Giannantonio und Morbidelli trennen ganze 49 Punkte, was verhältnismäßig einem extrem hohen Abstand zwischen WM-Platz 12 und 13 entspricht. Zum Vergleich: In den letzten zehn Jahren waren es nie mehr als 18 Zähler, häufig sogar deutlich weniger. In der reinen GP-Tabelle läge Morbidelli auch tatsächlich nur 21 Punkte hinter dem WM-12.

Alle MotoGP-Sieger und Podestplätze 2023

FahrerSiege GPPodium GPSiege SprintPodium Sprint
Bagnaia7 154 13
Martin4 89 14
Bezzecchi3 71 6
Binder- 52 7
Zarco1 6- -
Aleix Espargaro2 31 1
Vinales- 3- 2
Marini- 2- 4
Alex Marquez- 22 2
Quartararo- 3- 1
Miller- 1- 2
Di Giannantonio1 2- 1
Morbidelli- -- -
Marc Marquez- 1- 3
Bastianini1 1- -
Oliveira- -- -
Augusto Fernandez- -- -
Nakagami- -- -
Rins1 1- 1
Raul Fernandez- -- -
Mir- -- -
Pol Espargaro- -- -

Im längeren Grand Prix haben die 'schwächeren' Fahrer einfach mehr Chancen, Spitzenergebnisse einzufahren. Das zeigt auch die obige Tabelle: Im Hauptrennen fuhren 15 unterschiedliche Piloten auf das Podest, acht von ihnen gewannen auch einen Grand Prix. Im Sprint schafften es zwar auch immerhin 13 Piloten in die Top Drei, statistisch gesehen ging aber fast die Hälfte der Podiumsplatzierungen an Bagnaia und Martin (27 von 57). Im Hauptrennen herrschte da deutlich mehr Abwechslung, hier kommen die beiden WM-Rivalen nur auf 22 von 60 Top-Drei-Platzierungen. Es wird spannend zu sehen sein, wie sich dieses Bild in den kommenden Jahren noch verändert.