Er ist wieder da: Nach mehr oder weniger zweijähriger 'Vollbremsung' hat sich Daniil Kvyat an allen Ecken und Enden des Motorsports zurückgemeldet. Im Jahr 2023 startete der Russe, der unter italienischer Lizenz fährt, bislang erfolgreich in der LMP2-Klasse der WEC, wurde jüngst als Lamborghinis neuer Werksfahrer an der Seite von Ex-Formel-1-Kollege Romain Grosjean vorgestellt - und nahm jetzt noch eine weitere, gänzlich neue Herausforderung in Angriff.

Kvyat zählte zum Aufgebot der offiziellen Rookie-Testfahrten der Formel E am Montag im direkten Anschluss an den Double-Header in der deutschen Hauptstadt. "Endlich zurück", sagte der 28-Jährige mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme, als Motorsport-Magazin.com ihn am Montagabend im Fahrerlager traf.

Kvyat im Gespräch mit Weltmeister Vandoorne und Test-Kollege ShwartzmanFoto: LAT Images

Kvyat: "Formel E hat sich entwickelt"

Kvyat war nicht etwa kurzfristig nach Berlin geflogen, um mal eben ins Auto zu hüpfen, sondern hatte schon seit Donnerstag die Atmosphäre im Fahrerlager aufgesogen und sich schlaugemacht: "Es war spannend, dem zu folgen, was die anderen Fahrer über das Auto sagen. Das hat mir geholfen. Die Formel E hat sich in den vergangenen Jahren zu einer sehr konkurrenzfähigen Rennserie mit vielen starken Fahrern entwickelt."

Im Outfit seines Test-Teams NIO 333 war Kvyat ständig im Paddock zu sehen, schaute hier und dort vorbei, um sich ein genaueres Bild der für ihn zuvor unbekannten Elektro-Weltmeisterschaft zu machen und sich ordentlich auf den eintägigen Test vorzubereiten. Am Montagmorgen war es dann soweit, Kvyat drehte seine ersten Runden im blau lackierten NIO, über den sich der talentierte (Noch-) Stammfahrer Dan Ticktum zuvor so ausgelassen hatte: "Unsere Energie-Effizienz ist entsetzlich. Ich habe die Schnauze voll, das Problem zu verschleiern."

Formel E: Kvyat bei Rookie-Test in Top-10

Kvyat ließ sich von diesen eindeutigen Aussagen des Briten nicht beeindrucken und legte insgesamt 95 Runden auf dem 2,355 Kilometer langen Kurs zurück. Das war nahe am Maximum, denn laut Informationen von Motorsport-Magazin.com durfte jeder Fahrer höchsten 100 Runden abspulen. In der kombinierten Zeitenliste ordnete sich Kvyat auf dem zehnten Platz ein, zur Bestzeit von Formel-2-Champion Felipe Drugovich (Maserati) fehlte eine halbe Sekunde.

Im durchaus prominent besetzten Starterfeld des Rookie-Tests hatte Kvyat immerhin die Nase vor seinem NIO-Kollegen Mikel Azcona. Der amtierende WTCR-Champion und zweifache TCR-Europe-Meister aus Spanien war mit einer persönlichen Bestzeit von 1:06.155 Minuten rund eine Zehntelsekunde langsamer. Die Rundenzeiten gaben angesichts der unterschiedlichen Programme der Teams allerdings nur einen groben Blick auf das tatsächliche Performance-Potenzial frei.

Daniil Kvyat testete in Berlin für NIO 333Foto: LAT Images

Kvyat in Berlin: "Schnell zum Speed gefunden"

"Am Morgen habe ich schnell zum Speed gefunden und lag meist in den Top-3", resümierte Kvyat im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Am Nachmittag wollte sich das Team auf das Gesamtbild fokussieren und unterschiedliche Dinge ausprobieren. Die Performance war da erst einmal nicht entscheidend. In den letzten paar Runden haben wir ein bisschen stärker gepusht und die Zeiten waren ziemlich gut."

Das chinesisch-britisch geführte Team NIO, in der Formel-E-Saison 2014/15 als NextEV-NIO noch Meister mit Nelson Piquet Junior, nutzte den Rookie-Test, um weiter an seinen zahlreichen Schwachstellen zu arbeiten. Eine willkommene Gelegenheit, schließlich sind Testfahrten in der Formel E stark limitiert. Und es ist kein Geheimnis, dass der neuentwickelte NIO auf einer schnellen Runde durchaus mit der Konkurrenz mithalten kann, in den Rennen wegen des schwächeren Antriebsstranges und Software-Problemen aber meist heillos unterlegen ist. In der Team-Wertung belegt NIO den drittletzten Platz.

Daniil Kvyat mit NIO-Kollege Mikel AzconaFoto: LAT Images

Kvyat über Formel-E-Auto: "Einige Leute hatten mich gewarnt..."

Das aktuelle, 350 kW (476 PS) starke Gen3-Auto mit den Hankook-Allwetterreifen, wenig Aerodynamik und einer Mickey-Maus-Bremse müsste eigentlich ein 'Kulturschock' gewesen sein für Kvyat, der während seiner Karriere fast ausschließlich Rennwagen mit so viel mehr Abtrieb pilotiert hatte. "Ich kenne hier einige Leute und die hatten mich gewarnt, dass das Auto ziemlich anders ist", sagte Kvyat mit einem leichten Grinsen im Gesicht. "Sie hatten Recht. Es ist wirklich sehr anders. Angefangen bei der Bremse über die Traktion bis zum Elektro-Motor. Das ist kein einfach zu fahrendes Auto."

Der 110-malige Grand-Prix-Starter hatte sich vor dem Wochenende im Simulator auf die unbekannte Herausforderung vorbereitet, um einen Eindruck zu erhalten: "Das war nicht das Gleiche, aber ich habe eine Idee vom Auto bekommen. Es ist rutschig, man muss sich daran gewöhnen. Aber ich fühlte mich wohl, auch, wenn sich das Auto viel bewegte. Das war eine Herausforderung, aber eine spannende."

Rookie-Testfahrten der Formel E auf dem ehemaligen Flughafen Berlin-TempelhofFoto: LAT Images

Formel E 2024? Kvyat offen für Doppelprogramm

Ob der Formel-E-Test eine einmalige Angelegenheit war für Kvyat, der sich mit seinem Arbeitgeber Lamborghini auf den Einstieg 2024 in die WEC und IMSA mit dem neuen LMDh-Prototypen vorbereitet? Weitere mögliche Programme dürften stark von den jeweiligen Rennkalendern abhängen, die aktuell natürlich noch nicht bekannt sind. Abgeneigt wirkte er allerdings nicht.

Kvyat, der sich mit einem 'Dankeschön' auf Deutsch von uns in Berlin verabschiedete, ließ durchblicken: "Das war heute eine gute Erfahrung. Ich bin offen für ein Doppelprogramm. Wenn die Kombination passt, möchte ich nichts ausschließen. Alles kann funktionieren. Ich will nächstes Jahr richtig viel zu tun haben - warum nicht auch in der Formel E? Das könnte eine gute Gelegenheit sein."

Formel-E-Rookietest Berlin: Kombiniertes Ergebnis

Pos. Fahrer Team Zeit
1 Felipe Drugovich Maserati 1:05.509
2 Victor Martins Nissan 1:05.610
3 Zane Maloney Andretti 1:05.619
4 Luca Ghiotti Nissan 1:05.780
5 Sheldon van der Linde Jaguar 1:05.814
6 Jehan Daruvala Mahindra 1:05.922
7 Robert Shwartzman DS Penske 1:05.923
8 Luke Browning McLaren 1:05.944
9 David Beckmann Porsche 1:05.996
10 Daniil Kvyat NIO 333 1:06.012
11 Yifei Ye Porsche 1:06.053
12 Tim Tramnitz Abt-Cupra 1:06.090
13 Mikel Azcona NIO 333 1:06.155
14 Will Stevens DS Penske 1:06.175
15 Linus Lundqvist Andretti 1:06.245
16 Hugh Barter Maserati 1:06.310
17 Adrien Tambay Abt-Cupra 1:06.352
18 Roberto Merhi Mahindra 1:06.386
19 Charlie Eastwood McLaren 1:06.454
20 Jordan King Mahindra 1:06.525
21 Jack Aitken Envision 1:06.878
22 Simon Evans Jaguar 1:07.147
23 Jonny Edgar Envision 1:07.172