Fiesta oder Fiasko, das ist hier die Frage beim Saisonauftakt der Formel E am kommenden Samstag in Mexiko-City (21:00 Uhr live bei ProSieben). Die erste rein elektrische Rennserie der Welt betritt mit ihren Gen3-Autos technologisches Neuland - und dieser Weg ist zu Beginn mit zahlreichen Stolpersteinen versehen. Im Fokus stehen Sorgen um die Zuverlässigkeit der neuen Rennwagen, die Sicherheit der Fahrer und nicht zuletzt um einen potenziellen Mangel an Ersatzteilen.

Es ist ein sehr ausführliches Lastenheft, das die Formel E innerhalb kürzester Zeit erfüllen muss, um einen sauberen Start in die dritte technologische Ära seit den Anfängen der Serie im Jahr 2014 hinzulegen. Dabei klingt es nach einem gewissen Wahnsinn: Die elf Teams reisen mit einem absoluten Mindestmaß an Vorbereitungszeit zum ersten von anvisierten 16 Rennen.

Massive Schwierigkeiten in der Entwicklung

Seit den ersten Gen3-Rollouts der eingeschriebenen Hersteller Porsche, Jaguar, Nissan, DS, Mahindra und NIO im Juni 2022 gab es Schwierigkeiten en masse. Vor allem die einheitlichen Bauteile wie die Williams-Batterie bereiteten große Kopfschmerzen und sorgten dafür, dass komplette Testtage kurzfristig abgeblasen werden mussten. Das betraf die Hersteller und Teams ebenso wie den neuen Reifenlieferanten Hankook.

Teams wie Abt Sportsline oder die Newcomer McLaren und Maserati konnten ihre Kundenautos kaum unter realen Bedingungen auf der Rennstrecke testen. Niemand nutzte die ohnehin nur vier erlaubten Privat-Testtage im Vorfeld der offiziellen Testfahrten Ende Dezember in Valencia gänzlich aus. Anhaltende Technik-Probleme und Lieferverzögerungen erschwerten die Vorbereitung enorm.

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Formel E 2023: Viel Technik - wenig Vorbereitung

McLaren, das die Startlizenz und einen Großteil des Teams vom zweifachen Weltmeister und Formel-E-Aussteiger Mercedes übernommen hat und 2023 mit Nissan-Kundenautos debütiert, hatte vor dem viertägigen Valencia-Test nur einen einzigen Testtag eingelegt. Nach den Testfahrten in Valencia wurden alle Autos noch an der Strecke in die speziellen DHL-Boxen verpackt und direkt in Richtung Mexiko transportiert.

Heißt im Klartext: Ein Team wie McLaren startet mit einem brandneuen und hochkomplexen Rennauto in die Saison, das zuvor kaum auf der Strecke bewegt worden ist. "Wir wollten den notwendigen Reifegrad des Gesamtpakets haben, dann können wir die Tage besser nutzen", sagte McLaren-Teamchef Ian James zu Motorsport-Magazin.com. "Das ist ganz wichtig, denn als Kundenteam haben wir nur wenige Tage."

Die Briten müssen voll auf Motorenlieferant Nissan vertrauen und konnten im Simulator nur an der eigenen Software und den Teamabläufen werkeln. Den meisten anderen Kundenteams geht es ähnlich. Formel-E-Rückkehrer Abt Sportsline konnte beispielsweise erst in Valencia zum ersten Mal die Räder an das Rennauto von Nico Müller schrauben - weil die Autos von Partner Mahindra spät geliefert wurden, war für einen Prüfstandlauf im heimischen Kempten keine Zeit gewesen.

In Valencia lief es für die meisten Teams zwar besser als im Vorfeld befürchtet und sie konnten mehr Runden als gedacht abspulen. Dennoch musste man unweigerlich den Eindruck erhalten, dass der Saisonstart Mitte Januar in Mexiko angesichts technischer wie globaler Herausforderungen und Krisen einfach zu früh kommt.

Formel-E-Test Valencia: Wie viele Runden die Teams fuhren

Team (Hersteller) Runden gesamt Fahrer
Maserati (DS) 502 Günther/Mortara
DS Penske 488 Vandoorne/Vergne
Porsche 465 Wehrlein/Felix da Costa
McLaren (Nissan) 453 Rast/Hughes
Nissan 434 Nato/Fenestraz
Andretti (Porsche) 416 Lotterer/Dennis
Mahindra 413 Di Grassi/Rowland
Jaguar 379 Bird/Evans
Abt-Cupra (Mahindra) 327 Müller/Frijns
NIO 315 Sette Camara/Ticktum
Envision (Jaguar) 273 Buemi/Cassidy

Formel E: Verlegung des Saisonstarts kein Thema

"Es werden noch nicht alle zu 100 Prozent aussortiert sein, aber das hat es in anderen Rennserien auch schon gegeben", zeigte sich Abt-Teamchef Thomas Biermaier gegenüber Motorsport-Magazin.com mehr oder weniger zuversichtlich. "Wir freuen uns auf den Start. Eine so lange Phase ohne Rennen ist ja auch langweilig. Dann habe ich lieber mal ein Rennwochenende, wo ich nicht so gut vorbereitet bin, weil wir da mehr lernen, als wenn man drei Tage irgendwo testet."

Trotz der zum Teil massiven Schwierigkeiten im Vorfeld, kam eine Verlegung des ersten Rennens für die Formel E offenbar nicht in Frage. Nach den hoffnungsvollen Eindrücken aus Valencia hat sich die Lage etwas beruhigt, doch unter realen Rennbedingungen könnte sich die Angelegenheit ganz anders gestalten. Zumal die Rennstrecke in Mexiko-City mitsamt der Höhenluft neue Herausforderungen an die Teams und Autos stellt, die mit den Bedingungen in Valencia kaum zu vergleichen sind.

Formel-E-Geschäftsführer Jamie Reigle sagte zu Motorsport-Magazin.com: "Manche hatten das Schlimmste befürchtet, das hat sich aber nicht bewahrheitet. Alle scheinen jetzt zumindest etwas entspannter zu sein. Ein Teamchef sagte mir, dass es viel besser laufe als erwartet. Als ich wissen wollte, was er erwartet hatte, sagte er: "Wir hatten wirklich Angst!"

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Formel E in Mexiko: Gibt es genug Ersatzteile?

Ungewiss ist nicht nur die Frage nach der Zuverlässigkeit, sondern auch am vorhandenen Ersatzteile-Kontingent. Spark Technologies als Lieferant der einheitlichen Chassis war in den vergangenen Monaten analog zu vielen Unternehmen mit Lieferkettenproblemen konfrontiert. Einige Fahrerlager-Insider beschrieben die Ersatzteile-Lage in Valencia als durchaus dramatisch. Die Spark-Garage leerte sich von Tag zu Tag.

"In der Vergangenheit sind wir mit vollen Containern von Valencia zum ersten Rennen aufgebrochen", erklärte Porsche-Gesamtprojektleiter Florian Modlinger gegenüber Motorsport-Magazin.com. "Jetzt sind die Container fast leer. Das heißt, dass wir einen Großteil erst in Mexiko bekommen. Dort wird ein erhöhter operativer Aufwand nötig sein. Hoffentlich sind wir in allen Bereichen so gut aufgestellt, dass ein Fahrer nicht die nächste Session verpasst, wenn er mal die Wand berührt."

Buemi-Unfall bringt neue Kollektiv-Sorgen

So war es auch kein Wunder, dass für Envision-Neuzugang Sebastien Buemi nach seinem diskutablen Unfall am Freitagmorgen in Valencia vorzeitig Feierabend war. Und Sergio Sette Camara konnte mit seinem NIO am letzten Testtag überhaupt keine Runde fahren, weil offenbar nicht ausreichend Material für eine Reparatur zur Verfügung stand.

Apropos Buemi: Der frühere Formel-E-Champion sorgte durch seinen Frontal-Crash an einer unüblichen Stelle auf der Strecke für einen echten Schreckmoment. Nicht wenige im Fahrerlager vermuteten schnell, dass die Elektronik des neuartigen Bremssystems versagte.

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Sicherheits-Thema: Gen3-Auto ohne traditionelle Bremse

In den Gen3-Autos gibt es keine hydraulische Bremse an der Hinterachse, die Verzögerung soll stattdessen die Rekuperationsleistung des neuen, 250 kW starken Frontmotors übernehmen. Zusammen mit den 350 kW vom zweiten Motor an der Hinterachse sollen die Fahrer per Brake-by-Wire-System während eines Rennens bis zu 40 Prozent der verbrauchten Energie zurückgewinnen.

Hierbei handelt es sich um ein wichtiges Sicherheitsthema, das zahlreichen Fahrern Sorgen bereitet. Auf Nachfrage zum neuen Bremssystem gaben sich die meisten Piloten auffällig schmallippig. Der zweifache Formel-E-Champion Jean-Eric Vergne konnte sich eine kleine Spitze in Valencia nicht verkneifen: "Fragt doch mal Buemi." Der Schweizer und vierfache Le-Mans-Sieger wollte oder durfte sich auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com übrigens nicht äußern...

Sicherheits-Bremssystem soll schnellstmöglich kommen

Das Bremsen-Thema beschäftigt die Formel E und die FIA seit geraumer Zeit. Ein zusätzliches Sicherheits-Bremssystem soll baldmöglich Einzug in die Autos halten, um im Notfall bzw. bei einem Ausfall des E-Motors einzugreifen. Für den Saisonauftakt in Mexiko reicht die Zeit allerdings nicht. So bleibt nur zu hoffen, dass alle Systeme wie erhofft arbeiten.

Man denke nur an den schweren Trainings-Unfall von Daniel Abt 2020 in Mexiko-City, als der damalige Audi-Pilot mit rund 200 km/h mehr oder weniger ungebremst in die Mauern einschlug und per Hubschrauber in ein Krankenhaus geflogen werden musste. Immerhin schaffte es der heutige TV-Experte am selben Tag rechtzeitig zurück zum Rennen.

Anders erging es Edoardo Mortara 2021 in Saudi-Arabien, als der Italo-Schweizer im Kundenauto von Venturi während eines Trainings mit 140 km/h ungebremst in die Streckenbegrenzung donnerte und alle von einem Mercedes-Motor angetriebenen Autos im Anschluss ein Startverbot für das Qualifying erhielten. Bei diesem Vorfall hatte unter anderem das Backup-Bremssystem des Gen2-Autos versagt. Der heutige Maserati-Pilot Mortara kam glücklicherweise ohne größere Verletzungen davon.

"Wir tun unser Bestes, um das sekundäre Bremssystem ab Diriyah trotz globaler Herausforderungen in der Lieferkette zu implementieren", teilte die FIA jüngst gegenüber The Race mit, also zum zweiten Rennwochenende in Saudi-Arabien zwei Wochen nach Mexiko. Wenig überraschend: Einige Teams wären alles andere als begeistert, wenn die bereits von der FIA homologierten Rennautos nach nur einem Rennen noch einmal angepasst werden müssten...