Eine halbe Sekunde fehlte Max Verstappen in der Endabrechnung des 2. Frankreich-Trainings auf Carlos Sainz und Charles Leclerc. Ferrari, mit radikalem neuem Unterboden angereist, kann sich aber am Freitagabend nicht so recht freuen. Spätestens nach einem Blick auf die Longrun-Zeiten in der Rennvorbereitung. Auch diese zeigen nämlich eine Domination - aber keine der Scuderia.

"Schauen Sie sich die Longruns an", wusste Red Bulls Motorsport-Chef Dr. Helmut Marko schon gleich nach dem Training. Die Analyse von Motorsport-Magazin.com fördert einen fast ungeheuerlichen Vorsprung von Max Verstappen zutage. Nicht weniger als eine Sekunde war der Red Bull bei vergleichbaren Werten im Schnitt schneller als Ferrari und Mercedes.

Es ist eine Ansage nach angekündigter Planänderung. Red Bull hatte am vergangenen Rennwochenende in Österreich ein böses Erwachen erlebt, als dem von der Pole gestarteten Verstappen die Reifen im Rennen eingingen. Die Mutmaßung: Vielleicht hat sich das Team, das seit dem Saisonbeginn nach der Form im Qualifying sucht, beim Setup verzettelt und zu viel Fokus auf die Zeitenjagd gelegt.

Also kehrt Red Bull in Frankreich zu jenen Prinzipien zurück, die dem Team bereits sieben Siege eingebracht haben: Fokus auf Rennsetup, Reifenverschleiß, und hohen Topspeed. Mit weniger Heckflügel ausgestattet zeigte sich das aus der frühen Saison bekannte Bild bei der Geschwindigkeitsmessung auf der Mistral-Geraden: Verstappen und Sergio Perez fuhren dem Rest der Formel 1 um über fünf km/h davon.

Formel 1 Frankreich: Topspeeds auf der Mistral-Geraden

Fahrer km/h
Perez 335,4
Verstappen 334,6
Leclerc 329
Sainz 328
Hamilton 326,8
Russell 326,5

Und trotzdem scheint Red Bull auch mit wenig Abtrieb im Longrun darauf zu vertrauen, die Reifen am Leben halten zu können. Wenngleich die eine Sekunde Vorsprung von Verstappen wohl etwas verzerrt ist. Leclerc fuhr neun Runden, Verstappen nur fünf. Außerdem landete der Monegasse mitten im Longrun im Verkehr, das drückte den Schnitt. Trotzdem: Leclerc fuhr nur eine einzige Runde unter 1:38. Verstappen fuhr alle Runden unter 1:38.

Formel 1 Frankreich - FP2: Longruns auf Medium

P. Fahrer Zeit Runden Reifenalter
1 Verstappen 1:37,725 5 10
2 Sainz * 1:38,199 4 * 6 *
3 Perez 1:38,315 4 12
4 Russell 1:38,544 4 14
5 Leclerc 1:38,642 9 15
6 Sainz 1:38,755 6 14
7 Hamilton 1:38,892 4 15
8 Vettel 1:39,385 8 18
9 Gasly 1:39,602 6 17
10 Norris 1:39,605 5 15
11 Alonso 1:39,619 10 19
12 Tsunoda 1:39,687 6 17
13 Albon 1:39,733 9 19
14 Bottas 1:40,014 4 17
15 Ocon 1:40,131 10 19
16 Magnussen 1:40,239 8 18
17 Zhou 1:40,264 6 18

Formel 1 Frankreich - FP2: Longruns auf Soft

P. Fahrer Zeit Runden Reifenalter
1 Ricciardo 1:38,968 2 7
2 Schumacher 1:41,300 6 15

Formel 1 Frankreich - FP2: Longruns auf Hard

P. Fahrer Zeit Runden Reifenalter
1 Stroll 1:39,554 8 17
2 Latifi 1:40,302 10 19
3 Ricciardo 1:40,438 4 15

*: Carlos Sainz fuhr ein antizyklisches Training: Nachdem er erst in der Mittagspause den neuen Unterboden verpasst bekam, fuhr er erst nach langer Wartezeit raus und eröffnete direkt mit der Qualifying-Simulation. Danach fuhr er seinen ersten Longrun (mit * gekennzeichnet) auf frischen Medium-Reifen, legte einen Boxenstopp ein, und beendete das Training auf dem gleichen Reifensatz. Alle anderen Fahrer fuhren ihre Longruns nur auf gebrauchten Reifen.

Red-Bull-Pace alarmiert Ferrari in Frankreich

Ferrari hatte schon im Vorjahr in Frankreich schwere Probleme mit dem Reifenverschleiß. Man kam mit der hier starken Belastung der Vorderreifen nicht zurecht. Natürlich ist das aber nur beschränkt mit 2022 vergleichbar, immerhin ist es eine neue Auto-Generation. Trotzdem scheint Ferrari hier im Renntrimm nicht gut in Form. Sainz berichtete wieder vom Graining der Reifen.

"Das ist sehr schwer zu verstehen", wundert sich Leclerc nach dem Training über das Formbild an der Spitze. "Es fühlt sich an, als ob Red Bull an diesem Freitag etwas anders macht." Das stimmt - aber die Antwort darauf scheint auch nicht für Ferrari zu sprechen. Im Gegenteil. Es sind die fünf Zehntel Rückstand von Verstappen in der Qualifying-Simulation.

Beide Top-Teams legten ihre Qualifying-Simulationen zwar ähnlich an, aber mit ganz unterschiedlichen Resultaten. Beide fuhren mit neuen Soft-Reifen eine Runde, kamen dann für Frontflügel-Anpassungen an die Box, und schoben danach auf den gebrauchten Reifen einen zweiten Versuch nach. Verstappen fuhr seine beste Zeit im ersten Versuch. Die war tatsächlich schneller als die Vergleichs-Zeiten der beiden Ferrari-Fahrer. Die legten nach ihrem Boxenstopp gewaltig nach.

Formel 1 Frankreich - FP2: Vergleich 1. und 2. Shortrun

P. Fahrer 1. Zeit 2. Zeit
1 Sainz 1:33,322 1:32,527
2 Leclerc 1:33,136 1:32,628
3 Verstappen 1:33,077 1:33,430

Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder halfen den Reifen die fünf Minuten lange Bummelei zwischen den beiden Versuchen, um sich zu erholen und im zweiten Anlauf gepaart mit weniger Benzinladung besser zu funktionieren. Oder Ferrari drehte den Motor auf. Die letzte These wird dadurch untermauert, dass Sainz und Leclerc an jedem Geschwindigkeits-Messpunkt beim zweiten Anlauf schneller waren.

Formel 1 Frankreich - FP2: Topspeeds 1. und 2. Shortrun

Sainz Leclerc Verstappen
1. Runde Sektor 2 276,6 km/h 276,5 km/h 278,7 km/h
Sektor 3 291,1 km/h 292,8 km/h 299,8 km/h
2. Runde Sektor 2 278,2 km/h 279,3 km/h 278,9 km/h
Sektor 3 301,8 km/h 298 km/h 298,6 km/h

Verstappens Qualifying-Defizit kein Weltuntergang

Verstappen kämpfte auf der Qualifying-Simulation außerdem stark mit der Auto-Balance. Der Großteil seiner Zeit ging in den langgezogenen Kurven 6 (2 Zehntel) und 11 (3 Zehntel) verloren. Der Red Bull untersteuert zu stark. Ein altbekanntes Problem. Mit vollen Tanks im Longrun verschwindet es.

Das Qualifying spielt ohnehin kaum eine Rolle. "Im schlechtesten Fall sind wir Zweiter", weiß Dr. Helmut Marko. Bei Carlos Sainz ist nämlich eine Startplatz-Strafe wegen dem Wechsel von Motor-Komponenten fix. Und einen Ferrari mit Pace- und Topspeed-Vorteil zu überholen ist für Verstappen kein Problem, das hat er 2022 bereits mehrmals unter Beweis gestellt. Ferrari hat also bis zum Qualifying noch viele Hausaufgaben zu erledigen, um eine Chance gegen Verstappen zu haben.

Sergio Perez fehlt nach Setup-Experimenten und einem Problem mit dem Stabilisator in der Qualifying-Gleichung, war aber im Renntrimm dran. Bleibt noch die Frage nach Mercedes. Mit leisen Hoffnungen war das Team nach den jüngsten Fortschritten nach Frankreich gekommen, doch im Qualifying-Trimm fehlten George Russell sieben Zehntel und Lewis Hamilton fast eine Sekunde. Wie Red Bull sah aber auch Mercedes im Longrun deutlich besser aus und konnte sogar mit Ferrari mithalten. Dem reifenschonenden Mercedes kommen Asphalttemperaturen jenseits der 50 Grad entgegen.

Aber das Pace-Defizit im Shortrun wird man nicht los. "Wir verlieren überall ein bisschen, jede Kurve", meint Hamilton. Zwar ist man hier dritte Kraft, aber der Vorsprung auf die versammelte Mittelfeld-Meute ist nicht groß. Damit steigt wie immer das Risiko, dass man das Rennen nach einem schlechten Qualifying auf dem falschen Fuß beginnt. Den ganzen Qualifying-Tag der Formel 1 heute in Frankreich gibt es hier im Liveticker.

Das Mittelfeld scheint von Upgrades zusammengeführt zu werden. McLaren und AlphaTauri brachten große Pakete und sprangen nach ein paar schwierigen Rennen prompt wieder an die Spitze des Verfolgerfeldes. Im Longrun balgten sie sich mit Alpine und Aston Martin, welche jedoch im Shortrun strauchelten. Wobei Fernando Alonso hier nur einen Versuch fuhr.

Sebastian Vettels Form lässt sich schwer einschätzen. Der unterirdische Qualifying-Trend von Aston Martin spricht gegen ihn. Fest steht: Das Mittelfeld hat gegen Red Bull, Ferrari und Mercedes im Rennen keine Chance, die Lücke ist massiv wie immer. Haas und Alfa enttäuschen. Mick Schumacher versuchte einen hoffnungslosen Longrun auf Soft - einem Reifen, mit dem niemand im Rennen rechnet. Kevin Magnussen sah auf dem Medium allerdings auch nicht gut aus.