Zwei seiner drei bisherigen Pole Positions in der Formel-1-Saison 2022 konnte Charles Leclerc in einen Sieg ummünzen. Doch der Trend war zuletzt nicht unbedingt Ferraris Freund. Im Rennen schien der Red Bull langsam die Überhand zu gewinnen. Obwohl WM-Leader Leclerc auch in Barcelona von Startplatz eins aus ins Rennen geht, ist der Monegasse nicht Favorit - oder doch?

Barcelona-Hitze ein Vorteil für Red Bull und Verstappen?

Auf den Zeitenlisten sah es bislang nach einem dominanten Wochenende für Ferrari und Leclerc aus. Bestzeit im 1. Training, Bestzeit im 2. Training, Bestzeit im 3. Training, Bestzeit im Q1, Pole im Q3. Nur im Q2 musste er sich geschlagen geben, weil er auf einen frischen Reifensatz verzichtete.

Tatsächlich aber sind die Sorgenfalten bei Ferrari tief. Die Longruns am Freitag waren besorgniserregend. Das ist auch der Konkurrenz nicht entgangen. Max Verstappen verlor zwar seinen letzten Versuch aufgrund eines DRS-Problems, hätte aber wohl keine Chance gegen die Leclerc-Zeit gehabt. Startplatz zwei für den Weltmeister ist aber in Anbetracht der Umstände mehr als nur Schadensbegrenzung.

"Unsere Longruns waren ziemlich okay", untertreibt Verstappen. Rund eine halbe Sekunde pro Umlauf brummte der Red-Bull-Lenker am Freitag der Konkurrenz auf. "Hoffentlich wird es morgen wieder richtig heiß", merkt Verstappen an. Umgebungstemperaturen von knapp 35 Grad lassen die Reifen nur so dahinschmelzen. Der Vorteil eines Reifen-schonenden Autos wird umso größer. Die Meteorologen machen Ferrari wenig Hoffnung.

Dass Barcelona für alle zur Reifen-Herausforderung wird, hat aber auch Vorteile. Mit einem Reifenwechsel wird voraussichtlich niemand durchkommen. Zwei Stopps eröffnen Optionen. Die hat Ferrari schon im Qualifying vorbereitet.

Leclerc sparte sich eine Runde auf frischen Reifen im Q2. Als einzige Top-Pilot hat er noch einen nagelneuen Satz Soft im Repertoire. "Ich wollte einfach auf einem frischen Reifen starten", verplapperte der Monegasse die Ferrari-Strategie.

Ferrari muss alles daran setzen, am Start nicht wieder Positionen an Red Bull zu verlieren. Das Delta zwischen Soft und Medium ist in Barcelona riesig, der Sprint bis Kurve eins außerordentlich lang. Hinter der Haltbarkeit der Soft-Reifen mit den schweren Autos zu Beginn des Rennen ist zwar ein großes Fragezeichen, Ferrari will dieses Risiko aber offenbar eingehen.

Vorne zu sein ist auf dem Circuit de Barcelona-Catalunya die halbe Miete. Auf kaum einem Kurs im Kalender ist Track-Position so wichtig wie hier. Zwar ist Überholen 2022 prinzipiell einfacher, in Barcelona erwarten die Piloten aber einen Rückschritt. "Hinterherfahren war hier bislang schwieriger als zuvor in der Saison. In dieser Hitze leiden die Reifen noch stärker darunter. Jede Runde, die du hinter einem anderen Auto fährst, ist eine Runde, in der du die Reifen überhitzt", erklärt Carlos Sainz. Der Lokalmatador startet im zweiten Ferrari von Platz drei.

Der Undercut dürfte dafür deutlich mächtiger sein bei diesem hohen Reifenverschleiß. Mit einem Start auf Soft kann man immerhin ein wenig entgegenwirken. Dafür könnte das Reifen-Delta am Ende groß werden und somit die Chance für Überholmanöver höher. Es ist eine verzwickte Situation für Ferrari.

Mercedes mit Hoffnungen auf Podium

Und nicht nur Red Bull macht sich Hoffnung. Mercedes zeigt sich in Barcelona in der stärksten Form des Jahres. Die neuen Teile haben das Bouncing-Problem zumindest teilweise behoben. "Es ist frustrierend, nicht näher an der Spitze zu sein." Die Aussage von Mercedes' Strecken-Chefingenieur Andrew Sholvin ist vielsagend. Die Plätze vier und sechs für George Russell und Lewis Hamilton waren eine kleine Enttäuschung.

Für das Rennen gilt bei Mercedes aber Attacke. "Ich glaube, wir können Ferrari angreifen und haben eine Chance auf das Podium", meint George Russell. Das glaubt auch Toto Wolff, sonst bekannt für seinen Pessimismus: "Ich glaube, wir haben eher ein Auto für das Rennen als für die Qualifikation, also werden wir sehen, wie sich das morgen entwickelt. Der Trend war im Allgemeinen, dass Red Bull im Rennen stärker war und Ferrari weniger."

Ferrari-Joker für Rennen

Ferrari hat aber noch einen kleinen Joker in der Hinterhand. In den Trainings ging es vor allem darum, die Updates zu verstehen. Möglicherweise hatte man dabei die Longruns etwas vernachlässigt. Nach den schwachen Zeiten am Freitag hat man reagiert und am Setup gearbeitet.

Im 3. Freien Training fuhren Leclerc und Sainz nicht zufällig ihre Qualifying-Generalproben früh in der Session. Anschließend konzentrierte man sich auf Longruns. "Die waren viel besser als gestern", berichtet Leclerc. "Leider haben wir keine Referenzen, weil wir die einzigen waren, die heute Morgen Longruns gefahren sind. Aber es fühlt sich so an, als hätten wir etwas gefunden."