Nach den ersten drei Rennen der Formel-1-Saison 2022 scheint Ferrari eine realistische Chance auf den Titel zu haben. Charles Leclerc wird bereits als heißer Kandidat für den Weltmeistertitel gehandelt. Carlos Sainz hingegen wurde nach seinem selbstverschuldeten Ausfall in Australien von diversen Medien bereits in die Rolle des Nummer-2-Fahrers gesteckt. Soll Ferrari im Titelkampf 2022 alles auf ein Pferd setzten und klare Teamhierarchien zugunsten Leclercs gelten lassen? Motorsport-Magazin.com debattiert das Pro und Contra.

Pro: Ferrari sollte nichts riskieren

In vielerlei Augen hat Carlos Sainz in der Saison 2021 sein wahres Können gezeigt. An mancher Stelle war sogar von einer "Entzauberung" Leclercs durch den Spanier die Rede. Sieht man sich aber die zuvor erbrachten Leistungen von Sainz genauer an, wird erkennbar, dass er sich an seinen vorherigen Teamkollegen teilweise schwer die Zähne ausgebissen hat - und dass, obwohl kein vierfacher Weltmeister namens Sebastian Vettel unter ihnen war, wie in Charles Leclercs Fall.

Carlos Sainz, kein "junger Überflieger"? - Im Gegensatz zu Leclerc, der bereits in seiner zweiten Saison hoch gehandelt und in das legendäre Rennteam aus Italien aufgenommen wurde, das zur damaligen Zeit auch noch ein echtes "Raketentriebwerk" im Heck verbaut hatte, verbrachte der Spanier wesentlich mehr Zeit in Rennboliden, die nicht gerade mit einer überragenden Performancestärke glänzen konnten.

In diesen Jahren scheint Sainz aber gelernt zu haben, wie man das Beste aus einem schwächeren Auto herausholt. Insofern passt es auch gut ins Gesamtbild, dass er sich 2021 gegen Leclerc durchsetzen konnte, in der aktuellen Saison aber bereits viel an Boden einbüßen musste. Mit dem neuen Ferrari F1-75 hat er nun nämlich zum ersten Mal ein Pferd unter dem Sattel, das ganz vorne im Feld mitmischen kann, und daran muss er sich vielleicht erst einige Zeit gewöhnen. Carlos Sainz konnte in seiner F1-Karriere nämlich noch keinen Grand Prix für sich entscheiden.

"Leclerc ist ein Kannibale. Imola erwartet den roten König." - Doch nicht nur mit Blick auf die F1-Vorgeschichte der beiden Fahrer ist Leclerc die bessere Wahl als Nummer 1 im Team, seine gesamte Natur passt einfach sehr gut zum italienischen Rennstall und den Italienern selbst. Das zeigt sich auch anhand der aktuellen Berichterstattung im Land des Traditionsrennstalls. Als "Karl der Große" und "der fliegende Prinz" wird er dort seit seinem dominanten Auftritt in Australien betitelt und Sätze wie die folgenden sind ebenfalls nicht selten: "Ferrari ist wie eine Rakete. Leclerc ist ein Kannibale. Imola erwartet den roten König. Keiner holt ihn gerade ein. Und die Weltmeisterschaft ist nun kein Traum mehr."

In solchen Aussagen spiegelt sich eindeutig wider, dass Leclerc tief im Herzen der Tifosi angekommen ist, während Sainz weit weniger Aufmerksamkeit von den Fans erfährt - und zwar trotz seiner ausgesprochen guten Ergebnisse in der letzten Saison.

Vernunft statt Risiko - Neben den besseren sportlichen Leistungen Leclercs und der ausgesprochen großen Beliebtheit, die er (nicht nur) unter italienischen Fans genießt, spricht aber vor allem auch die reine Vernunft für den Monegassen als Nummer 1. Nach eineinhalb Jahrzehnten ohne WM-Titel dürstet es sowohl die Tifosi als auch das gesamte Team aus Maranello nach einem Saisonsieg.

Diese Gelegenheit dem Ego einzelner unterzuordnen, wäre geradezu fahrlässig. Mercedes und Red Bull machen seit geraumer vor, wie es funktionieren kann, und der Erfolg gibt ihnen wohl auch zweifellos recht. Ferrari sollte es also erst einmal genauso machen und kein unnötiges Risiko eingehen.

Markus Golob

Contra: Sainz zu unterschätzen könnte teuer werden

Carlos Sainz soll mit seinem missglückten Wochenende in Melbourne bereits sein Schicksal als Ferraris Nummer 2 besiegelt haben? Von wegen! Zugegeben, Sainz' Auftritt beim Grand Prix von Australien war nicht gerade eine Glanzleistung. Für den Ferrari-Piloten war der Ausfall im Rennen jedoch ein äußerst rares Missgeschick.

Zuvor konnte der Spanier eine beeindruckende Punkte-Serie über eine Länge von 17 Grand Prix aufrechterhalten. Zudem schaffte er es in 31 aufeinanderfolgenden Rennen ins Ziel. Diese Zahlen zeugen deutlich von Sainz' Konsistenz, die nach einem einzigen DNF nicht in Vergessenheit geraten sollte und die, beim Kampf um den Titel, ausschlaggebend sein kann.

Aufholjagd noch möglich - Auch, dass Leclerc in den ersten Rennen die Nase um ein Stück vorne hatte, ist bei einem Rennkalender mit 23 Rennen nicht wirklich aussagekräftig. Sainz scheint noch nicht gänzlich die Liebe zum neuen Boliden entwickelt zu haben, die Saison 2021 zeigte jedoch, wie schnell sich der Spanier an ein neues Auto gewöhnen kann. Findet Sainz erstmal seine 100 Prozent, könnte es im Kampf um die Spitze ganz schön eng werden. Immerhin schob sich der Spanier im Vorjahr noch im letzten Rennen in Abu Dhabi an seinem Teamkollegen Leclerc vorbei, und besiegte Ferraris 'Wunderkind' als Scuderia-Neueinsteiger.

Obwohl Leclerc derzeit einen beachtlichen Vorsprung in der Fahrer-WM angehäuft hat, wird der Monegasse Unfälle und technische Probleme im Laufe der Saison kaum gänzlich vermeiden können. Es werden sich daher noch genügend Möglichkeiten zum Aufholen bieten. Sainz zu unterschätzen, wäre ein Fehler, den sich Ferrari keinesfalls leisten will.

Teamorder könnten Ferrari Konstrukteurstitel kosten - Ohnehin ist es nach nur drei Rennen viel zu früh, um Entscheidungen über den möglichen Titelkandidat zu treffen. Die Saison dauert noch lange. Ferrari muss sich seine Chancen offenhalten, besonders, wenn die Scuderia auch den Konstrukteurstitel holen möchte. Dazu braucht das Team in Rot zwei motivierte Fahrer. Es braucht Sainz. Eine klare 1-2-Rangordnung hingegen demoralisiert und sorgt nur für unnötige Spannungen im Team, die im schlimmsten Fall zu Kollisionen alla Hamilton und Rosberg führen können.

Die beiden Ferrari-Piloten werden den teaminternen Kampf schon untereinander ausmachen - mit ihrer Performance auf der Strecke anstatt restriktiver Teamorder. Mit 20 verbleibenden Rennen ist noch alles offen. Ferrari sollte daher Sainz die Möglichkeit, auf Leclerc aufzuholen, nicht vorzeitig nehmen. Der gleichen Meinung scheint auch Ferrari-Teamchef Mattia Binotto zu sein. "Es steht unseren Fahrern frei zu kämpfen. Ich freue mich wirklich darauf und genieße es, dass sie um einen guten Platz und wenn möglich sogar den ersten Platz kämpfen", so der Italiener nach dem Großen Preis von Australien. Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

Isabelle Grasser