Die ersten beiden Trainings der Formel-1-Saison 2020 waren ein Nackenschlag für alle Nicht-Mercedes-Fans: Lewis Hamilton und Valtteri Bottas fuhren der Konkurrenz in Österreich auf dem extrem kurzen Red Bull Ring auf Anhieb eine halbe Sekunde davon. Auch in Schwarz scheinen die Silberpfeile schier übermächtig.

Muss Mercedes überhaupt irgendetwas fürchten in Spielberg? Und was ist mit Red Bull und Ferrari los? Sind die beiden Top-Teams tatsächlich so von der Rolle, dass Racing Point im - salopp gesagt - pinkten Vorjahres-Mercedes Vettel und Verstappen davonfährt? Die erste Trainings-Analyse des Jahres 2020 liefert Antworten.

Machtdemonstration von Mercedes und Lewis Hamilton

Die schnellste Runde, die Lewis Hamilton in 1:04,304 Minuten in den steierischen Asphalt brannte, war ein Schock für die Konkurrenz. Auf der zeitlich gesehen kürzesten Runde der Saison brummte der Weltmeister Teamkollege Valtteri Bottas schon zwei Zehntel auf, Sergio Perez auf Rang drei sogar sechs Zehntel. Eine Machtdemonstration.

Die zahlreichen neuen Teile am Silberpfeil scheinen die Vormachtstellung der Testfahrten zu untermauern. Die ganzen Technik-Checks gingen nicht ganz spurlos am F1 W11 vorüber: An Hamiltons Auto gab es Probleme mit der Telemetrie, Bottas musste den Tag wegen eines Getriebeproblems vorzeitig beenden.

Der Weltmeister gibt sich trotz der Zahlen gewohnt zurückhaltend: "Alles in allem sah es gut aus, aber man darf nie zu viel ins Training hineininterpretieren. Man weiß nie, was die anderen Teams mit Blick auf die Leistung und die Spritmenge gemacht haben. Entsprechend müssen wir das heutige Ergebnis mit Vorsicht genießen."

Max Verstappen relativiert schwachen Red Bull

Red Bull, das sich selbst als ärgster Verfolger sieht, enttäuschte hingegen maßlos. Max Verstappen kam nicht über Rang acht hinaus. Neun Zehntel fehlten dem Niederländer. Allerdings schaffte es der Youngster trotz der entschärften Strecke, sich einen Frontflügel kaputt zu fahren.

Seine schnellste Rundenzeit ist daher irrelevant. Auch die Longruns sind mit Vorsicht zu genießen, hatte Red Bull kein Exemplar des aktuellsten Modells mehr. Die Hausherren sind deshalb noch nicht allzu besorgt. "Es war ein positiver Tag", bilanzierte sogar Verstappen. "Das Auto hat sich gut verhalten und die Rundenzeiten sagen nichts aus."

Red Bulls Hoffnungen ruhen auf dem Wettergott. Am Freitagmorgen war es noch regnerisch, tagsüber stieg das Quecksilber nur moderat an. Erst am Abend kam die Sonne, die auch für Samstag und Sonntag vorhergesagt ist. Die Bullen hoffen auf eine Wiederholung des Vorjahres, als die extremen Temperaturen Mercedes dazu zwangen, die Motorabdeckung zu öffnen und Performance zu opfern.

Mercedes muss Wetterbericht für Spielberg nicht fürchten

"Normalerweise wird es immer eng, wenn die Temperaturen ansteigen", fürchtet auch Mercedes-Ingenieur Andrew Shovlin. Auch wenn die Wetterprognosen gut sind, tropische Hitze wie im Vorjahr wird lange nicht erwartet. Während 2019 an der 40-Grad-Marke knackte, sagen die Prognosen zum Saisonstart 2020 knapp 25 Grad vorher.

Außerdem hat Mercedes über den Winter verstärkt an den Temperaturproblemen gearbeitet. Bei Red Bulls riesigem Rückstand stellt sich eher die Frage, ob sich das letzte Vor-Mercedes-Weltmeisterteam nach hinten umsehen muss.

Schließlich waren nicht nur beide Racing Point vor Verstappen und Alex Albon - der nebenbei bemerkt keine größeren Probleme hatte -, sondern auch Geburtstagskind Sebastian Vettel im Ferrari, Daniel Ricciardo im Renault und Lando Norris im McLaren.

Ferrari ohne Illusionen: Best of the Rest das Maximum

Die gut sechs Zehntelsekunden, die Ferrari auf Rang vier eingeschenkt bekam, waren weniger überraschend. Die Italiener hatten schon vor dem Wochenende auf die Euphoriebremse getreten. Die Frage ist nur: Liegt Ferrari tatsächlich auch hinter Racing Point? Während Vettel immerhin Vierter wurde, landete Charles Leclerc auf Rang neun gerade so in den Top-10 - und das ohne große Probleme.

"Es war kein großartiger Tag für uns, wir sind nicht, wo wir sein wollen", bilanzierte Leclerc. "Die Balance ist nicht so schlecht, aber wir müssen Performance finden. Wir werden morgen verschiedene Dinge ausprobieren", verspricht der Monegasse.

Sebastian Vettel sprach an seinem Geburtstag immerhin von einem 'ordentlichen' Tag ohne Probleme. Aber selbst damit lautet das Ziel nur Best of the Rest: "Ich glaube nicht, dass wir um Pole kämpfen, wir müssen sehen, dass wir dahinter die Besten sind. Das wird morgen ein interessanter Tag."

Racing Point überzeugt in Österreich auch im Longrun

Hat Racing Point nur Showrunden ausgepackt oder kann der RP20 tatsächlich zum Ärgernis für Ferrari und Red Bull werden? Die erste Longrun-Analyse der Saison gibt immerhin etwas Aufschluss.

Als einziger Pilot ging Vettel erst am Ende der Session auf den Soft-Reifen auf den Longrun. Der 33-Jährige fuhr seine Dauerläufe antizyklisch, die Zeiten sind somit nicht zu vergleichen. Den Ton gab auch im Longrun Mercedes an, diesmal mit Vorteil Bottas.

Immerhin gibt es hier ein kleines Lebenszeichen von Red Bull: Selbst mit altem Frontflügel etablierte sich Max Verstappen auf Rang drei. Allerdings fehlte ihm auch dabei schon mehr als eine halbe Sekunde. Eine halbe Zehntel dahinter dann wieder die Racing-Point-Überraschung mit Sergio Perez. Und selbst Lance Stroll konnte die Pace einigermaßen mitgehen.

Beide Racing Points waren deutlich schneller als Charles Leclerc im Ferrari. Der Monegasse musste sich sogar hinter beiden McLaren und beiden Renault anstellen. Weil Ferrari als einziges Top-Team von nur Soft und Hard im 2. Training fuhr, bleiben weitere repräsentative Vergleiche aus.

Formel 1 Österreich GP 2020, Longruns im 2. Training

Longruns auf Soft-Reifen

POS Fahrer Zeit Stint-Länge Reifen-Alter
1 Bottas 1:08,716 8 17
2 Vettel* 1:08,800 6 17
3 Hamilton 1:09,005 10 20
4 Verstappen 1:09,264 9 15
5 Perez 1:09,315 12 22
6 Stroll 1:09,472 11 21
7 Sainz 1:09,512 11 16
8 Ricciardo 1:09,582 7 14
9 Norris 1:09,585 8 16
10 Ocon 1:09,633 13 21
11 Leclerc 1:09,685 15 25
12 Albon 1:09,703 9 21
13 Gasly 1:09,728 11 20
14 Giovinazzi 1:09,772 12 22
15 Kvyat 1:09,987 11 27
16 Räikkönen 1:10,028 12 24
17 Grosjean 1:10,089 17 26
18 Russell 1:10,185 3 14
19 Magnussen 1:10,504 9 19
20 Latifi 1:10,938 2 14

*Sebastian Vettel fuhr als einziger Pilot am Ende der Session auf den Soft-Reifen

Longruns auf Medium-Reifen

POS Fahrer Zeit Runden Reifen-Alter
1 Hamilton 1:08,261 7 18
2 Perez 1:08,831 12 26
3 Verstappen 1:08,964 16 26
4 Stroll 1:09,113 14 28
5 Bottas 1:09,131 5 19
6 Ricciardo 1:09,209 13 22
7 Albon 1:09,407 14 26
8 Norris 1:09,476 7 22
9 Giovinazzi 1:09,567 15 27
10 Räikkönen 1:09,649 9 20
11 Russell 1:09,862 13 26
12 Magnussen 1:10,057 11 25

Longruns auf Hard-Reifen

POS Fahrer Zeit Runden Reifen-Alter
1 Leclerc 1:09,013 7 21
2 Ocon 1:09,454 9 21
3 Vettel* 1:09,688 19 31
4 Gasly 1:09,800 17 44
5 Grosjean 1:09,830 5 24
6 Latifi 1:10,702 22 31

*Sebastian Vettel fuhr als einziger Pilot am Anfang der Session auf den Hard-Reifen

Fazit: Mercedes ist uneinholbar vorne. Ob nun mit oder ohne DAS, ob Hitze oder Regen: Am schwarzen Silberpfeil wird es keinen Weg vorbei geben. Der Kampf dahinter verspricht dafür umso mehr Spannung: Wenn Verstappen mit neuem Flügel seine Runde zusammenbekommt, ist er erster Verfolger.

Racing Point gegen Ferrari ist das spannendste Duell: Die Italiener können normalerweise einen größeren Sprung von Freitag auf Samstag machen. Bleibt abzuwarten, ob das auch 2020 gilt. Weil Sebastian Vettel antizyklische Longruns fuhr und Charles Leclerc bei der Pace deutlich hinter seinem Teamkollegen zurückblieb, gibt es keine repräsentativen Longrun-Zeiten von Ferrari. Auch McLaren und Renault könnten auf dem kurzen Red Bull Ring für Überraschungen sorgen.