Wer soll diesen Leclerc stoppen, schrieben wir nach dem 1. Freien Training zum Russland GP 2019. Die Antwort gab Max Verstappen wenige Stunden später: Der Red-Bull-Pilot fuhr im zweiten Training in Sotschi Bestzeit und brummte dem Monegassen drei Zehntelsekunden auf.

Red Bull auf einer Strecke, auf der man sich nicht viel erhoffte und deshalb eine Motorenstrafe in Kauf nimmt vor Ferrari? Und was ist mit Mercedes? Valtteri Bottas fehlten sechs, Lewis Hamilton schon acht Zehntelsekunden. Und was war mit Vettel los? Ihm fehlte eine ganze Sekunde.

Eins nach dem anderen. Zunächst Red Bull: "Warten wir mal, wenn die anderen aufdrehen, wo wir dann sind. Aber wir waren schnell, ja", sagte Dr. Helmut Marko zu Motorsport-Magazin.com.

Ein wenig wird es Red Bull schon bereuen, die Motorenstrafe in Sotschi gezogen zu haben. Es war ein taktischer Zug, man will beim Honda-Heimspiel in Suzuka in zwei Wochen besonders gut aussehen. In Russland rechnete man sich keine großen Chancen aus. Doch 2019 kann man sich in der Formel 1 nicht mehr auf Prognosen verlassen, das hat Singapur gezeigt.

Apropos Singapur: Das Simulator-Problem hat Red Bull gelöst. Nicht der Simulator selbst war das Problem, sondern die Interpretation der Daten. Die Ingenieure wählten das theoretisch schnellste Setup - das aber in der Realität von den Fahrern nicht umzusetzen war. In Russland ist man wieder auf dem richtigen Dampfer.

Die große Überraschung war Verstappens erster Sektor. Dort zählt fast ausschließlich Power und Luftwiderstand. Trotzdem war der Red Bull dort ganz knapp Klassenprimus. Doch da könnte der Qualifikationsmodus der Konkurrenz ins Spiel kommen, den der Doktor fürchtet.

Formel 1 Sotschi, Sektorzeiten 2. Training

Sektor 1 Sektor 2 Sektor 3
Verstappen 33,916 Bottas 32,145 Verstappen 27,062
Vettel 33,967 Leclerc 32,148 Hamilton 27,135
Leclerc 33,969 Verstappen 32,184 Bottas 27,276
Hamilton 34,194 Vettel 32,282 Leclerc 27,380
Kvyat 34,271 Hamilton 32,316 Vettel 27,621
Perez 34,284 Albon 32,631 Gasly 27,667
Sainz 34,317 Perez 32,693 Albon 27,691
Bottas 34,326 Norris 32,708 Hulkenberg 27,706
Raikkonen 34,333 Gasly 32,768 Grosjean 27,726
Stroll 34,401 Kvyat 32,792 Ricciardo 27,777
Gasly 34,404 Hulkenberg 32,811 Stroll 27,823
Giovinazzi 34,424 Giovinazzi 32,819 Perez 27,885
Magnussen 34,479 Magnussen 32,833 Raikkonen 27,893
Hulkenberg 34,509 Ricciardo 32,902 Kvyat 27,976
Norris 34,512 Stroll 32,952 Magnussen 27,988
Grosjean 34,526 Raikkonen 32,957 Norris 28,003
Albon 34,624 Sainz 32,977 Giovinazzi 28,288
Ricciardo 34,629 Grosjean 33,071 Sainz 28,326
Russell 35,023 Russell 33,358 Russell 28,404
Kubica 35,222 Kubica 33,750 Kubica 28,739

Die meiste Zeit holte Verstappen aber im letzten Sektor. Leistung zählt hier nicht. Stattdessen ist in den langsamen Ecken mechanischer Grip gefragt. "Hier leiden Hinterreifen", berichtet Leclerc und spricht sogleich das übliche Ferrari-Problem an: "Da muss man im ersten Sektor vielleicht etwas opfern, um dann im letzten besser zu sein." Ferrari hat Probleme, die weichste Reifenmischung über eine gesamte schnelle Runde am Maximum operieren zu lassen. Drei Zehntelsekunden verliert Leclerc hier.

Doch warum tat sich Sebastian Vettel so schwer? Übermäßig besorgt hörte sich der Deutsche nicht an: "Ich denke, dass morgen, wenn der Rhythmus da ist, das auch wieder kommen sollte. Da mache ich mir keine Sorgen."

Vettel holte nicht das Maximum aus seinen frischen Soft-Reifen heraus. Den ersten Versuch musste er abbrechen, den zweiten ebenfalls. Seine persönliche Bestzeit fuhr er erst in der dritten Runde. Trotzdem: Auch die Addition seiner besten Sektoren bescheinigt ihm einen Rückstand von gut drei Zehntelsekunden auf Teamkollege Leclerc.

Möglicherweise verlor Vettel auch bei Windschattenspielen. Vettel und Leclerc gingen direkt hintereinander auf die Strecke. Auf seiner ersten Runde zog der Deutsche den Monegassen. In der darauffolgenden Runde fuhr Vettel hinter Leclerc her. Teamchef Mattia Binotto wollte die Windschattenspiele (noch) nicht bestätigen, gibt aber zu: "Der Windschatten könnte hier für die Qualifikation wieder wichtig sein."

Bleibt noch Sorgenkind Mercedes. Die schlechte Nachricht für die Silberpfeile: Einen einzelnen Faktor scheint es nicht zu geben. Der F1 W10 verlor in allen Sektoren auf den RB15. Immerhin: Hamilton wäre etwas näher dran, hätte er seine Runde zusammenbekommen. Doch auch dann würde sein Rückstand noch knapp eine halbe Sekunde betragen.

"Auf dieser Strecke ist es traditionell schwer für uns, die Vorderreifen auf die nötige Temperatur zu bekommen", erklärt Mercedes' Technikchef James Allison. Das scheint der letzte Sektor zu bestätigen. Wenn Ferrari schon Probleme mit den Reifen bekommt, beginnt der Mercedes zu funktionieren. Im Schlussabschnitt verlor Hamilton weniger als eine Zehntelsekunde auf Verstappen, auf die Ferrari konnte er sogar gewinnen.

Die meiste Zeit verliert Mercedes aber erneut auf den Geraden. Die Messstelle für den Topspeed am Ende von Start/Ziel wird zu stark von Windschattenfahrten beeinflusst. Repräsentativer ist der Messwert am Ende von Sektor zwei. Dort belegen Hamilton und Bottas die Plätze 18 und 19. Satte acht Stundenkilometer fehlen hier auf Leclerc, der Rang zwei belegt.

Formel 1 Sotschi, Geschwindigkeitswerte Sektor 2

Fahrer Team Motor Speed
Giovinazzi Alfa Ferrari 327,9
Leclerc Ferrari Ferrari 326,5
Perez Racing Point Mercedes 326,1
Stroll Racing Point Mercedes 325,9
Vettel Ferrari Ferrari 324,6
Kvyat Toro Rosso Honda 323,8
Gasly Toro Rosso Honda 323,3
Raikkonen Alfa Ferrari 322,4
Ricciardo Renault Renault 322
Norris McLaren Renault 322
Albon Red Bull Honda 321,8
Sainz McLaren Renault 321,5
Hulkenberg Renault Renault 321,2
Grosjean Haas Ferrari 320,7
Kubica Williams Mercedes 320,7
Russell Williams Mercedes 320,1
Verstappen Red Bull Honda 319,1
Hamilton Mercedes Mercedes 318,5
Bottas Mercedes Mercedes 318,1
Magnussen Haas Ferrari 317,9

Lewis Hamilton verspricht: "Entsprechend werden die Lichter heute Abend lange an sein, um zu verstehen, was wir besser machen können, um uns morgen weiter zu steigern." Russland-Spezialist Valtteri Bottas hofft auf Hilfe von oben: "Ich hoffe, dass es morgen regnet, denn ich glaube, dass wir in einem Regen-Qualifying eine bessere Chance haben könnten."

Wenn Mercedes auf Regen hoffen muss, sagt das viel. Der hohe Luftwiderstand des F1 W10 wiegt dann nicht ganz so schwer. Der absolute Abtrieb, den der Silberpfeil produziert, ist im Nassen ein größerer Vorteil.

Beim Thema Regen kam am Freitag in Sotschi ein interessantes Thema auf: Die Strecke soll über keine Drainagen verfügen, hieß es von verschiedenen Quellen. Das ist nicht korrekt, aber tatsächlich könnte Regen zum Problem werden. Denn die Strecke wurde auf bestehendes Terrain der olympischen Winterspiele gebaut. Deshalb konnte kein spezielles Quergefälle angelegt werden. Das Wasser läuft also nicht besonders gut ab

Die Wetterfrösche prognostizieren vor allem für Samstag Regenschauer. Am Sonntag besteht weiterhin ein gewisses Regenrisiko. Muss man Mercedes abschreiben, wenn es trocken bleibt? Nein. "Auf den Medium- und Hard-Reifen sah unsere Performance schon recht ordentlich aus", berichtet Bottas.

Möglicherweise kommt der Soft-Pneu überhaupt nicht zum Einsatz. Wenn es im Qualifying regnet, haben alle freie Reifenwahl im Rennen. Eine Einstopp-Strategie scheint die einzig sinnvolle Lösung. Schon im vergangenen Jahr war Russland eine Einstopp-Rennen. 2019 kommen die Mischungen C2 bis C4 zum Einsatz, 2018 wurde noch der Hypersoft gefahren. Die Mischungen sind also eine Stufe härter.

"Am sichersten wäre es dann auf Medium zu starten", berichtet Pirellis Mario Isola. Bei einem frühen Safety-Car könnte man auf die harten Reifen wechseln und bis zum Ende des Rennens durchfahren. Die harten Pneus zeigten sich nicht nur haltbar, sondern auch bei der Performance brauchbar.

Formel 1 2019: 5 Brennpunkte vor dem Russland GP: (10:47 Min.)

Sollte es im Qualifying trocken bleiben, haben die Topteams noch immer die Möglichkeit, sich auf den C3-Reifen für Q3 zu qualifizieren. "Das ist sogar wahrscheinlich", glaubt Isola. Pirelli rechnet mit einer vergleichsweise geringen Delta-Zeit von 0,6 Sekunden zwischen den einzelnen Mischungen. Eine Zeit, die die Topteams im Vergleich zum Mittelfeld haben sollten.

"Zudem bestärkt uns die Tatsache, dass unser Auto mit viel Benzin an Bord und unter Ausschluss der ersten Runde schnell aussieht. Es sollte also ein gutes Auto für das Rennen sein", warnt James Allison die Mercedes-Konkurrenz.

Aber auch Ferrari scheint plötzlich Longruns zu können. "Das war vielleicht die stärkste Rennpace, die wir seit Saisonbeginn im zweiten Training je hatten", freut sich Leclerc. Hat das Upgrade den Ferrari nun zur Wunderwaffe gemacht?

"Ich glaube nicht, dass die Rennpace je unsere Schwäche war", sagt Teamchef Mattia Binotto zu Motorsport-Magazin.com. "Auf den Strecken, auf denen wir gut waren, waren wir auch im Rennen gut. Okay, wir sind im Qualifying etwas konkurrenzfähiger, aber das führe ich eher auf eine Stärke dort als auf eine Schwäche im Renntrimm zurück."

Die Longruns in Sotschi sind mit Vorsicht zu genießen. Leclerc und Verstappen fuhren ihre Runs etwas untypisch: Zuerst auf Medium, dann auf Soft. Bottas, Hamilton und Vettel fuhren die umgekehrte Reihenfolge. Deshalb muss man die Zeiten innerhalb dieser zwei Gruppen vergleichen.

Formel 1 Sotschi, Longruns im 2. Training auf Soft

Fahrer Gefahren gegen Reifenalter Stintlänge Zeit
Leclerc Ende 14 4 1:38,698
Verstappen Ende 17 5 1:38,821
Bottas Anfang 15 6 1:39,716
Vettel Anfang 21 10 1:39,957
Hamilton Anfang 15 4 1:40,364

Auf den Soft-Pneus war Leclerc rund eine Zehntelsekunde schneller als Verstappen. Für Ferrari ist das an einem Freitag tatsächlich bemerkenswert. In der zweiten Gruppe lag Vettel zwar zwischen Bottas und Hamilton, allerdings fuhr der Deutsche auch einen deutlich längeren Run auf älteren Reifen. Die Ergebnisse sind positiv.

Formel 1 Sotschi, Longruns im 2. Training auf Medium

Fahrer Gefahren gegen Reifenalter Stintlänge Zeit
Hamilton Ende 17 5 1:38,933
Vettel Ende 11 2 1:39,233
Verstappen Anfang 17 5 1:39,434
Leclerc Anfang 19 9 1:39,825

Auf den Medium-Reifen scheint Ferrari wie üblich etwas mehr Schwierigkeiten zu haben. Doch die Zeiten sind bei weitem nicht so dramatisch wie schon an anderen Wochenenden. Vettel verlor auf Hamilton rund drei Zehntelsekunden. Verstappen fuhr in Wertung zwei vier Zehntel schneller als Leclerc.

Auf den harten Reifen verzichteten die Topteams im Longrun. Wohl aus gutem Grund: Um relevante Daten zu sammeln, hätten sie das gesamte 2. Training auf dem weißen Pneu durchfahren müssen.

Fazit: Bleibt es trocken, ist Ferrari auf eine Runde Favorit. Der Power-Modus sollte gegen Verstappen helfen. Der Kampf zwischen Red Bull und Mercedes wird spannend, wenn auch Brixworth den Partymode vollumfänglich freigibt. Im Renntrimm scheint der Mercedes das beste Auto zu sein. Aber der Vorsprung ist nicht groß. Mit dem Speed-Nachteil stellt sich die Frage, wie die Silberpfeile vorbeigehen sollen. Regen im Qualifying könnte da helfen. Red Bull wird sich über die fünf Strafplätze für Verstappen und Albon ärgern.