Eigentlich sollten die Abstände zwischen den Teams immer kleiner werden. Bis zum Europa GP in Aserbaidschan wurden sie das auch. Auf dem Baku City Circuit zeigte sich aber plötzlich ein ganz anderes Bild: Mercedes dominierte von Runde eins an dermaßen, dass sich jeder fragt: Warum?

Zunächst die Zahlen der Dominanz: Im Qualifying holte Nico Rosberg nach nur einem Versuch in Q3 die Pole Position mit knapp acht Zehntel Vorsprung vor Sergio Perez. Im Rennen konnte Rosberg der Konkurrenz - wenn er wollte - rund eine Sekunde pro Runde abnehmen. Am Ende begnügte er sich aber mit einem Vorsprung von 17 Sekunden.

Mit der richtigen Strategie wäre Sebastian Vettel vor zwei Wochen in Monaco noch mit Lewis Hamilton um den Sieg gefahren. In Monaco und Spanien war außerdem Red Bull an Mercedes dran. Warum zog sich das Feld in Baku plötzlich so weit auseinander? Motorsport-Magazin.com hat Daten, die interessante Antworten geben.

Längste Vollgas-Passage der Formel 1

Die erste Vermutung ist einfach: Der Baku City Circuit hat die längste Vollgas-Passage der gesamten Saison. Rund 25 Sekunden geben die Piloten vom Ausgang Kurve 16 bis zum Bremspunkt für Kurve 1 Vollgas. Weder in China, noch in Spa stehen die Fahrer so lange auf dem Pinsel. Und nicht nur diese Sektion will Power: Abgesehen von der Altstadt-Sektion rund um die Stadtmauer ist Leistung überall gefordert.

Ist die Mercedes Power Unit noch immer eine Klasse für sich?Foto: Mercedes AMG

Das Ergebnis kann man so deuten: Im Rennen landeten sechs Mercedes-befeuerte Fahrzeuge in den Top-10. Nur die Manors konnten nicht in diese Sphären vordringen. Force India konnte sogar aus eigener Kraft mit Ferrari mithalten - dass muss doch mit dem Motor zusammenhängen, oder?

Nicht ganz: Force Indias Stärke war der Mittelsektor. Ausgerechnet der Abschnitt, der die meisten und engsten Kurven hat. "Wenn man sich die Geschwindigkeiten ansieht, kommt die Lücke nicht von dem Speed auf der Geraden", erklärte Mercedes Motorsportchef Toto Wolff Motorsport-Magazin.com. "Wir sind da nicht das schnellste Team. Es kommt mehr über den winkligen Teil in der Altstadt."

Speed-Messung nicht aussagekräftig

Die Speed-Werte in Baku sind komplex und mit Vorsicht zu genießen. Der Messpunkt für die Höchstgeschwindigkeit, im Fachjargon Speed-Trap genannt, befindet sich 210 Meter hinter Kurve 20. Hier liegen die Geschwindigkeiten bei rund 330 km/h. Bis zum Bremspunkt ist es aber noch ein weiter Weg. An allen Sektor-Enden wird ebenfalls die Geschwindigkeit gemessen. Und die Ziellinie befindet sich deutlich näher am Bremspunkt für T1 als der Speed-Trap.

Höchstgeschwindigkeiten im Rennen

Platz Fahrer Team Motor Geschwindigkeit
1 Lewis Hamilton Mercedes Mercedes 364,4 km/h
2 Nico Hülkenberg Force India Mercedes 363,5 km/h
3 Marcus Ericsson Sauber Ferrari 360,6 km/h
4 Carlos Sainz Jr. Toro Rosso Ferrari 2015 358,6 km/h
5 Kimi Räikkönen Ferrari Ferrari 356,9 km/h
6 Sergio Perez Force India Mercedes 356,9 km/h
7 Daniel Ricciardo Red Bull Tag Heuer 356,2 km/h
8 Fernando Alonso McLaren Honda 355,6 km/h
9 Esteban Gutierrez Haas F1 Ferrari 353,5 km/h
10 Max Verstappen Red Bull Tag Heuer 353,2 km/h
11 Nico Rosberg Mercedes Mercedes 352,3 km/h
12 Sebastian Vettel Ferrari Ferrari 352,2 km/h
13 Felipe Massa Williams Mercedes 352,1 km/h
14 Pascal Wehrlein Manor Mercedes 352,0 km/h
15 Valtteri Bottas Williams Mercedes 351,5 km/h
16 Jenson Button McLaren Honda 351,2 km/h
17 Kevin Magnussen Renault Renault 349,7 km/h
18 Romain Grosjean Haas F1 Ferrari 348,8 km/h
19 Rio Haryanto Manor Mercedes 348,8 km/h
20 Felipe Nasr Sauber Ferrari 347,3 km/h
21 Jolyon Palmer Renault Renault 344,4 km/h
22 Daniil Kvyat Toro Rosso Ferrari 2015 333,1 km/h

Für die Höchstgeschwindigkeit ist es deshalb sinnvoll, den Wert der Start- und Ziellinie zu betrachten. Im Rennen war dort Lewis Hamilton mit 364,4 Stundenkilometer der Schnellste. Marcus Ericsson mit dem diesjährigen Ferrari-Aggregat kam als Dritter immerhin auf 360,6 km/h. Und selbst Carlos Sainz mit dem alten Ferrari-Motor schaffte es auf 358,6 Stundenkilometer.

Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene ist sich sicher: "Unsere Stärke ist der Motor. Uns fehlt es ein bisschen am Chassis und an der Aerodynamik." Die Messungen sind aber nicht besonders aussagekräftig, weil sie durch DRS und Windschatten stark verfälscht werden. Im Windschatten beschleunigte Valtteri Bottas im Qualifying sogar bis auf 378 km/h - Formel-1-Rekord

Doch woher kommt der große Rückstand nun? Motorsport-Magazin.com hat alle Geschwindigkeitsmessungen des gesamten Rennens überprüft - mit einem interessanten Ergebnis. Die Top-Werte von Nico Rosberg und Sebastian Vettel unterscheiden sich nur um 0,1 Stundenkilometer. Quasi nichts. Das ist aber kaum eine interessante Beobachtung.

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Interessant wird es erst über den gesamten Rennverlauf. Hier gibt es große Unterschiede: Vettel im Ferrari ist an der Messstelle durchschnittlich 11 Stundenkilometer langsamer als Rosberg im Mercedes. Durchschnittlich - keine Extremwerte. Während Rosberg im Rennen auf einen Schnitt von 336 km/h kommt, bringt es Vettel auf lediglich 325 km/h. Die Geschwindigkeitsdifferenz ist konstant.

Mit elf Stundenkilometern ist der Unterschied auch ziemlich eklatant. Rosberg konnte im ersten Stint Vettel locker eine Sekunde pro Runde abnehmen. Zum Vergleich: Die Geschwindigkeitsmesswerte in Sektor 1 und Sektor 2 liefern kaum Unterschiede zwischen Ferrari und Mercedes. An beiden Messstellen fehlt Vettel im Mittel rund ein Stundenkilometer auf Rosberg.

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Damit scheint klar: Im Rennen gewinnt Mercedes die Zeit sehr wohl auf der Geraden. Das dürfte hauptsächlich mit dem Energie-Management zu tun haben. Die MGU-K darf pro Runde 2 Megajoule rekuperieren, also an Energie in die Batterie einspeisen. Die Batterie wiederum darf pro Runde maximal 4 Megajoule an die MGU-K abgeben.

Batterie im Qualifying vorgeladen

Die Differenz, 2 Megajoule, kann von der MGU-H ausgeglichen werden. Außerdem darf die MGU-H unlimitiert Leistung direkt an die MGU-K abgeben. Im Qualifying ist der Unterschied zwischen den Herstellern nicht gravierend, weil die Batterie vor der schnellen Runde geladen werden kann. Im Rennen zählt jede Runde.

Möglicherweise kann Ferrari schlichtweg im Renntrimm nicht bis zum Ende der langen Geraden elektrische Energie abgeben. Das kann aber wiederum mit dem Verbrennungsmotor zusammenhängen: Wenn die MGU-H auf der Geraden vom Turbolader angetrieben wird und die elektrische Energie direkt an die MGU-K abgibt, steigt der Abgasgegendruck. Der wiederum hat einen großen Einfluss auf den Verbrennungsvorgang im Zylinder.

Allerdings geht es nicht nur um Hardware: Für jede Strecke gibt es Analysen, wie und wo die Energie rekuperiert und wie und wo abgegeben wird. Am sinnvollsten ist es, am Anfang einer Geraden Energie abzugeben, weil es dort einen größeren Effekt auf die Rundenzeit hat. Beschleunigung ist wichtiger als Endgeschwindigkeit. Das Prinzip ist bei allen gleich. Nur Mercedes kann es sich - im Gegensatz zu Ferrari - offenbar erlauben, deutlich länger elektrische Energie abzugeben.